Streiten wir! Streitkultur in der Krise

Alles war gut. Fast alles. Angst ums Leben, Hunger oder andere existenzielle Bedrohungen kannte kaum noch wer in Österreich. Wohlstand war für die meisten eine Selbstverständlichkeit, zumindest wenn man in Maßstäben eines Menschen in Afghanistan denkt. Friede, Globalisierung und liberale Regierungen, die möglichst wenig in unser Leben eingriffen, waren die Basis für unser komfortables Leben. Satt und zufrieden saßen wir in unseren Fernsehsesseln, zappten, wischten und klickten uns durch die weite Welt und nur mehr Luxusprobleme wie der Krümmungsgrad von Gurken oder Rauchverbot brachten unser politisches Blut in Wallung. Losgelöst von Abhängigkeiten feierten wir das Leben, dem individuellen Glück stand nichts im Weg. 

Alles stand uns offen, alles war möglich. Dann kam Corona. Und futsch war die gefühlte Freiheit. Weg war die Unabhängigkeit.

Plötzlich ist unsere Gesundheit, im schlimmsten Fall unser Leben, davon abhängig, ob die Nachbarin die Lockdownregeln einhält oder der Nächste an der Supermarktkassa die Maske richtig trägt. Die Regierung schränkt Bewegung ein und verordnet Regeln, die wir in dieser Massivität nicht kannten. Plötzlich spüren wir nur allzu deutlich deutlich, wie eng verflochten unsere Gemeinschaft ist, trotz aller Individualität.

Jetzt geht’s wieder um die existenziellen Fragen.

Dass das nicht ohne Konflikte, ohne Diskussion, ohne Streit geht, ist klar. Denn jetzt geht’s wieder um die existenziellen Fragen. Würden wir unkommentiert alles hinnehmen, wären wir Lemminge und keine zivilisierten, denkenden Menschen. Streit in solchen Momenten, wo sich alles ändert, ist wichtig. Weil Harmoniebedürfnis uns nicht weiterbringt und mit Demokratie auch nichts zu tun hat.

Wie wollen wir miteinander leben, reden, arbeiten? Wer soll für uns Staat, Länder, Gemeinden führen? Welche Regeln sollen fürs Zusammenleben gelten und wer soll deren Einhaltung kontrollieren? Woher bekommen wir Informationen und wem glauben wir?

Alle diese Fragen gehen richtig tief und daher finde ich Streit gerade jetzt unerlässlich. 

Aber ein Match braucht Regeln. Fair Play nennt man das im Sport. Anonyme Briefe in privaten Postkasterln, Bedrohungen oder tätliche Angriffe, Lügen, Einschüchterungen oder Niederbrüllen zählen für mich nicht zum fairen Spiel. Streiten wir! Wir haben’s doch gelernt, wie das geht. 

Diskussion, Debatte, Streit – das Ringen um tragfähige Antworten – sind Triebfedern einer lebendigen Demokratie und unterschiedliche Meinungen ihr Fundament. Nur in einer Diktatur gibt es genau eine alleingültige Meinung. Aber ein konstruktiver Streit ist kein Kampf, er braucht ein paar wenige Zutaten: Spielteilnehmer:innen, die vernünftig und fähig sind, sich ins Gegenüber einzufühlen. Mit Respekt und verlässlichen Quellen. Lügen und Fake-News gehören nicht dazu.

Und am Ende? Da entscheidet die Mehrheit darüber, welche Lösung für ein Problem gefunden werden soll. Das ist Demokratie, die bislang erfolgreichste Form des Zusammenlebens, die wir entwickelt haben. Streiten wir! Machen wir uns aus, wie wir unsere Zukunft gestalten wollen. Aber bleiben wir beim Fair-Play. 

Katharina Schellnegger

 

Zurück
Zurück

Shortcut - Bericht aus dem Gemeinderat Dezember 2021

Weiter
Weiter

Mutig sein und hinhören